Josef und seine Brüder 1992/1993

Es gibt kaum einen Teil in der Bibel, der so menschlich von Gott redet wie die Josefs-Erzählung. Wer diese Erzählung mit Hingabe liest oder sie hört, dem kann ein Gefühl der Fremdheit gar nicht aufkommen. Was hier in einem kleinen Menschenkreis geschieht, das ist uns alles vertraut. Das meiste, was hier erzählt wird, könnte heute ebenso oder ähnlich geschehen. Szenen unserer Kindheit kommen uns in Erinnerung, eigene Träume werden lebendigEin Vater hat eine Vorliebe für einen seiner Söhne. Diese Vorliebe, erwachsen aus der Ehegeschichte des Vaters, bewirkt Tagträume und Allmachtsfantasien bei dem Bevorzugten, Hass bei den Zurückgesetzten. Der Hass führt zu Verbrechen und unschuldigem Leiden. Nach vielen Verwirrungen wird es auf einmal wichtig, dass ein alter Mann in Frieden sterben kann. Eine Familie gerät ohne Schuld in eine Hungerkatastrophe, die es damals wie heute gab und gibt. Der kleine Familienkreis wird in die Schicksale der grossen Welt hineingerissen. Seine Glieder bekommen es mit den Mächtigen dieser Welt zu tun und sind ihnen ausgeliefert. Eine verschmähte Frau rächt sich. Ein kleiner Mann wird unschuldig ins Gefängnis geworfen. Die Hungernden kommen zu den Mächtigen, sie müssen sich niederwerfen, sind ohnmächtig, ein Spielball ihrer Launen - damals wie heute. Dies alles ist verwoben mit einer Geschichte von Schuld und Strafe, von Verfehlung und Vergebung, von Zerreissen und Heilen, von Verzweiflung und Hoffnung. Und wie seltsam: am Ende segnet einer von diesen kleinen Leuten, die aus dem Elend kamen, den grossen Pharao. Es ist einer da, der alle Fäden in der Hand hält, im Grossen und im Kleinen. Innerhalb der Vätergeschichten des ersten Buches der Bibel steht die Josephsgeschichte am Schluss, das heisst im Übergang von der Familien- zur Volksgeschichte, dort, wo die Familie sich zur Welt hin öffnet. Das Problem politischer Herrschaft wird erwogen. Wie kann ein Bruder der Herrscher seiner Brüder sein? Noch viel intensiver aber zeigt die Josefs-Erzählung die geschichtliche Phase, in der die für sich lebende Sippe mit der grossen Welt in Berührung kommt und sich selbst zur Welt hin öffnet; immer wieder treffen wir auf das lebendige, wache Staunen in der Begegnung mit einer weitaus grösseren Kultur mit den wirtschaftlichen und politischen Institutionen eines Weltreichs, mit seinen Mächtigen und Gewaltigen. Insofern thematisiert die Josefs-Erzählung auch die lebensgeschichtlichen Fragen der Jugendzeit: wie kann ich mich lösen aus dem Bannkreis der Familie und der Welt begegnen? Unser Josef-Musical deutet in seiner Übertragung auch eine Antwort an: Geh' deinen Weg! Vergiss deine Träume nicht! Schau in dich selbst hinein! Treu dieser Erde: Greif nach den Sternen!